T-Rehx

 

Als ich in die grosse Halle eingetreten war, war sofort ein Reh auf mich zugekommen und hatte mir einen Kaffee angeboten. «Haben Sie vielleicht auch ein KarReh zum Essen?» hatte ich fragen wollen. Aber der Scherz war mir im trockenen Hals steckengeblieben. Ich hatte nur genickt. Die zehn Minuten, die mir noch blieben, sass ich nun vor der imposanten Tür und blickte verloren in meinen Kaffee.

Die Schockstarre hatte ich noch im Garten verloren. Als ich mich ins Auto gesetzt hatte, hatte ich einen Weinkrampf erlitten, der direkt in einen Lachkrampf übergegangen war. Geschlafen hatte ich wenig. Die letzten 15 Stunden waren in meinem Gedächtnis nicht mehr als ein kurzes Aufflackern einzelner Bilder. Fast die ganze Nacht war ich vor dem Computer gesessen. Zuerst hatte ich die Ordner mit alten Fotos durchgeklickt, anfangs, um mich an die Zeiten zu erinnern, einzutauchen, ein bisschen Abstand zu gewinnen. Doch schnell hatte ich gemerkt, dass ich bei jedem Foto, auf dem mein Vater und dann auch Edi zu sehen war, nach irgendeinem Anzeichen des Reh-Inforcements suchte. Kleine Hörner, grössere Ohren, der Ansatz eines Schwanzes, Hufe – irgendetwas. Aber natürlich war da nichts gewesen.

Als ich heute Morgen aufgewacht war, hatte ich kurz das Gefühl, alles sei nur ein Traum gewesen. Bis ich in den Spiegel geblickt hatte. Meine eigenen Hörner, die grossen Ohren. Und das Gift, dass mir mein Vater eingeflösst hatte, hatte nicht nur meinen Körper verändert. Ich spürte eine deutliche Sympathie, die in mir hochkam, als ich das Bild sah. Mein Bild sah. Im Geist wehrte ich mich noch gegen die neue Welt, in die ich eingetreten war. Mein Herz aber schien sie bereits zu akzeptieren.

«Entschuldigen Sie.» Die Stimme der Rehdame riss mich aus den Gedanken. Ich blickte hoch. «Er ist jetzt dann bereit, Sie zu sehen.» Ich nickte. Zwang mich, mich zusammenzureissen. Eigentlich war bis jetzt alles recht angenehm gewesen, hier, in diesem Gebäude, hier, unter den Rehen. Alle waren mir freundlich begegnet und man konnte auch nicht sagen, dass diese Tiere oder Menschen oder – wie sollte man nur sagen? – eben: Rehe – spassbefreit gewesen wären.

Die Dame – offenbar die SekRehtärin – hatte mir vorhin, als wir in das Vorzimmer eingetreten waren, an der Schulter gefasst und gesagt, dass alles gut werden würde. Für Sie sei es ähnlich gewesen. Auch sie sei damals, als sie rehkrutiert worden sei, voller Zweifel gewesen. «Aber er» – sie zeigte auf die Tür, hinter der ich jetzt, in den nächsten Minuten, auf den Imperrehtor treffen sollte – «ist eigentlich ganz okay. Er ist das älteste Reh, müssen Sie wissen.» Ich hatte genickt. Die Geschichte der Rehinkarnation hatte mir mein Vater ja bereits erzählt. Sie hatte gelächelt. «Wissen Sie, wie wir ihn deshalb innerhalb der Belegschaft nennen?» … «Den T-Rehx.» Sie hatte gelacht. Ich hatte mich gezwungen, auch zu lächeln.

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