Die zusammengezogenen Augenbrauen Edis hatten mich anfangs ein bisschen zweifeln lassen. Würde er mir glauben? Ich blickte nach unten, suchte Halt an dem Kugelschreiber, den ich zwischen meinen Fingern drehte. Jedes Auto, das vorbeifuhr, machte die Sekunden länger, die Situation angespannter. Ich zuckte zusammen, als er das Gespräch schliesslich eröffnete. Als er dann mit meiner Schwester anfing, wusste ich zuerst nicht, ob das ein Grund zur Entspannung wäre.

«Ich habe Elisa vor einer Woche wieder besucht. Ich hatte gehofft, irgendetwas hätte sich verändert. Nach einem weiteren Jahr. Aber sie hat mich noch immer nicht erkannt. Die Pflegerin meinte, sie hätte auch einen schlechten Tag gehabt.» Wieder Schweigen. Sein Blick auf die Strasse. «Wann warst du das letzte Mal bei ihr?» «Ich… vorige Woche.» schnaufte ich. «Hm.» Wir wechselten uns ab, mein Vater und ich. Jede Woche ging jemand anderer zu Elisa. Wir sassen meist da und sahen ihr beim Lesen zu. Das machte sie meistens. An guten Tagen, glaube ich, dass sie uns irgendwie erkennt. Normalerweise nickt sie einfach nur, wenn einer von uns den Raum betritt. Ich glaube, sie hat sich an unsere Anwesenheit gewöhnt, nimmt sie zur Kenntnis. Wir haben irgendwie einen Platz in ihrer neuen Welt eingenommen, wie eine Uhr, die irgendjemand an die Wand hängt und die täglich vor sich hin tickt.

«Du weisst, dass sich nichts ändern wird, Edi.» «Hm.» Wir waren schon ein gutes Stück weit gekommen. Ich wusste nicht, wohin er mich jetzt fahren würde. Es sah so aus, als wollte er mich direkt zu meinem Vater bringen. Eigentlich hatte ich das nicht geplant, doch die Stimmung, die mich in diesem Auto umgab, wirkte geradezu lähmend auf meinen Entscheidungswillen und ich liess es mit mir geschehen. «Wir waren ein glückliches Paar, Elisa und ich.», sagte Edi schliesslich. «Das war ein grosses Glück. Nicht jeder hat das.» Schon an der letzten Kreuzung hatte Edi das Radio leise aufgedreht und stellte es jetzt lauter. Wir fuhren ein paar Minuten, bevor er es wieder leiser machte. Er wirkte aufgewühlt. «Weisst du, es hätte auch einfach alles normal weitergehen können. Ich habe lange darüber nachgedacht, das weisst du. Nächtelang bin ich durch die Landschaft gefahren und habe mich gefragt, ob das alles nicht passiert wäre, wenn ich an diesem Abend wie vereinbart zu unserem Treffen gekommen wäre. Aber weisst du was? Ich bin heute an dem Punkt, an dem ich mir eingestehe, dass es Dinge in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt, die ich nicht ändern kann. Wir beide haben vieles erlebt. Ich denke heute noch oft an unsere Wochenenden im Wald, an unsere Lager, an unsere blöden Kinderspielchen. Es hat Zeiten gegeben, in denen ich das am liebsten aus meiner Biografie gestrichen hätte. Idiotische Träumereien. Aber heute» – er stieg aufs Gas «, heute bin ich froh, dass ich Zeiten hatte, in denen ich geträumt habe. Wenn mir das Leben wieder einmal trostlos vorkommt, kann ich daran zurückdenken und mein kindliches Ich schickt mir ein Lächeln durch die Zeit, das ich dann für ein paar Minuten tragen kann.» Er bremste wieder. Gott sei Dank. «Warum ich das zu dir sage?» Ich blickte ihn an. «Ich habe keine Ahnung was in deinem Vater vor sich geht und ich bin mir bei dir – ehrlich gesagt – auch nicht sicher. Aber wenn da irgendetwas ist, dass ihm Halt gibt» – Edi war jetzt stehengeblieben – «, dann nimm ihn darin ernst.»

Das Schweigen, das darauf folgte, war um Welten entspannter als noch jenes vorhin. Ich blickte aus dem Fenster und bekam fast einen Herzinfarkt. Der Fahrradfahrer neben uns blickte mich mit seinem Rehkopf an grinste, bevor er weiterfuhr.

Es war wirklich dringend, dass ich mit meinem Vater spräche.

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