Der neue Rehnault

Die zweite Halbzeit war ich hauptsächlich damit beschäftigt mir Worte zurechtzulegen. Die ersten Versuche endeten allesamt in Kopfschütteln. Es klang einfach alles zu abstrus. Dennoch war mir klar, dass ich mit Edi würde reden müssen. Das war die einzige Chance, nicht durchzudrehen. Falls ich das nicht sowieso schon war. Aber der Referreh am Spielfeld war echt! Er rannte da noch immer. Dass das die anderen Zuschauer nicht sahen – oder es sie nicht irritierte, WENN sie es denn sahen –, verwirrte mich noch mehr. Und eben darum war es wichtig mit Edi zu reden! Ich musste herausfinden, ob bei mir etwas nicht stimmte.

Meine zurückhaltende Stimmung während des restlichen Spiels hatte nicht für allzu viel Verwunderung bei Edi oder den anderen Leuten im Fansektor gesorgt. Wir hatten gleich nach Wiederanpfiff in der 47. Minute das 2:1 erhalten und waren dann nicht mehr in der Lage gewesen, das Spiel zu drehen. Immer wieder waren wir zum Strafraum gekommen, aber der letzte Pass fand nie einen Abnehmer.

Als wir uns auf den Weg zum Auto machten, war es Edi, der ein Gespräch begann.

«Es ist schon wieder passiert.» Ich blickte ihn an. «Weisst du, ich bin ja prinzipiell ein zuversichtlicher Mensch, aber man weiss einfach nie, was geschehen wird.» Ich nickte. Schon oft hatten unsere Gespräche so begonnen. Edi hatte zwar nie ein Problem gehabt Frauen kennenzulernen. Die Beziehungen fanden aber meistens relativ schnell wieder ein Ende. Der Grund war meistens derselbe. Edi hatte Angst, dass irgendetwas schief gehen könnte. Dabei waren seine Kennenlerngeschichten oft ein Knaller. Ich kann mich daran erinnern, dass wir beide einmal im Kino waren. Da waren wir irgendetwas Mitte 20.

Nach den Tickets haben wir Popcorn und Cola gekauft, haben uns die Wartezeit bis zum Filmstart mit irgendwelchen Spielen vertrieben. Hunde oder Handtaschen zählen oder die Outfits der anderen Leute in ihrer Lustigkeit bewerten. Solche Dinge. Ich musste dann kurz auf die Toilette. Als ich wiederkam, sass ein Mädchen bei ihm am Schoss. Ich weiss bis heute nicht, wie er das genau angestellt hat. Erzählt hate, er hätte, nachdem ich gegangen sei, einfach alleine unser Lustiges-Outfit-Spiel weitergespielt. Dann habe er sie gesehen. Trisha oder Tanja oder so ähnlich hat sie geheissen, glaube ich. Er habe ihr jedenfalls laut «Sieben!» entgegengerufen, woraufhin sie sich umgedreht habe und ihn im scharfen Ton darauf hingewiesen habe, dass, A), das Bewerten von Frauen an sich schon sexistisch sei und es  ihnen B) dann auch noch hinterherzurufen von einer Macho-Identität zeuge, die schon in den 1970er Jahren out gewesen sei. Er habe sich dann auf charmante Art bei ihr entschuldigt und ihr sachlich mitgeteilt, dass er mit der Sieben keineswegs eine Wertung ihre Attraktivität vornehmen, sondern vielmehr seine Verwunderung über ihr spassiges Outfit zum Ausdruck bringen wollte. Das habe sie stutzig gemacht. Sie habe an sich hinuntergeblickt und die Augenbrauen gehoben. (Dass sie keineswegs in irgendeiner Art spassig ausgesehen habe, sei dabei offensichtlich – und für ihn, Edi, zum grossen Glück – irrelevant gewesen) Und spassig, so er weiter, nachdem er ihre Verunsicherung bemerkt habe, sei dabei durchaus als Kompliment zu verstehen. Wenn sie ihn selbst ansehe – das pinke T-Shirt, die gelbe Kappe, dazu die alte Jeans – würde sie das sicher einsehen. Dass er jedoch seine Verwunderung dann wirklich artikuliert habe, tue ihm leid, er könne sich das selbst nur damit erklären, dass er von ihrer Garderobe anscheinend derart geflasht war, dass sein Urteil auf dem Weg von seinem Herzen – dann da fingen bei ihm alle Urteile an, das müsse sie ihm einfach glauben – zu seinem Hirn bei der Zunge zu früh abgebogen sei.

Ich habe später oft versucht ihn in seiner Art zu kopieren, aber bei mir ging das immer kläglich in die Hose. Irgendetwas in meiner Stimme, meinem Gehabe, meinem Blick oder meinen Worten war anscheinend einfach nicht so überzeugend wie bei Edi. Streit oder Neid hatte es deswegen zwischen uns aber nie gegeben. Ich hatte andere Stärken und war durchaus auch in der Lage, diese in den Vordergrund zu stellen.

Bei Edi scheiterte es normalerweise nach zwei bis drei Monaten. Meistens stand irgendein Treffen bevor. Mit Freunden von ihr oder Teilen der Familie – manchmal auch schon mit ihren Eltern. Immer wenn es zu diesem Punkt kam, bekam Edi kalte Füsse.

Und so war es auch diesmal gewesen. Mit Kerstin hatte es eigentlich gut angefangen. Die beiden hatten sich bei der Arbeit kennengelernt, ganz unspektakulär. Die Tage der Verführungssprüche von früher waren bei Edi schon ein paar Jahre vorbei und er hatte etwas kleinere Töne angeschlagen. Anfangs hatten sie viel im Pausenraum gesprochen, sich dann einmal zum Essen getroffen, waren ins Kino gegangen – das Übliche. Und dann, vor ein paar Tagen – sechs, sieben Wochen nach ihren ersten Dates – wollte sie ihm ihre beste Freundin vorstellen. Er hatte gespürt, dass es damit irgendwie ernst werden würde. «Weisst du, ich mag sie, wirklich. Und vielleicht könnte da auch… Aber…. Weisst du… Was ist, wenn dann wieder irgendetwas dazwischenkommt? Wenn ihr plötzlich einfällt, dass ihr mein Aftershave nicht gefällt?» Er sah mich hilfesuchend an. Wie er mich immer nach diesen Fragen ansah. Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter. «Edi, du weisst, was ich jetzt sagen werde. Ich sage dir das immer. Versuch es. Versuch es, egal ob ihr in einem Jahr zusammenwohnt oder nicht. Versuch es, egal ob ihr in drei Jahren einen gemeinsamen Hund kauft oder nicht. Versuch es, egal ob ihr zusammen im Altersheim Tee trinkt oder nicht. Ich sage es dir immer wieder: Versuch es, egal ob es gut wird oder nicht. Man kann es vorher nicht wissen.» Normalerweise blickte er mich daraufhin etwas traurig an, nickte und sagte: «Ja, ich weiss, du hast Recht.» – um die Beziehung daraufhin zu beenden. Doch dieses Mal waren seine Augen anders. Irgendetwas war darin erloschen, kam mir vor. Er nickte nur. «Mhm.» Ging weiter.

Als ich mich wieder gefangen und zu ihm aufgeschlossen hatte; als ich gerade von hinten meine Hand erneut auf seine Schulter legen wollte streifte mein Blick sein Auto und ich hätte beinahe einen Herzinfarkt bekommen: Aus dem Dach des Autos kamen zwei Geweihe. «Edi – was… Hast du ein neues Auto?» «Hm? Oh, ja, stimmt, habe ich dir gar nicht erzählt. Ich hab` mir vorige Woche einen Rehnault gekauft!»

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