Das Rehstaurant

Der Käfer war im Rasen verschwunden und hatte meine Gedanken mit sich genommen. Ich setzte mich wieder ins Auto, startete den Motor. Auf der Landstrasse war kein Verkehr. Mit leicht überhöhter Geschwindigkeit fuhr ich zurück Richtung Stadt.
Am Nachmittag war ich mit Edwin verabredet. Wir wollten uns das Spiel des FC ansehen, hatten Karten fürs Stadion. Als ich daran dachte, erhellte sich mein Gesichtsausdruck zu einem Lächeln. Mit Edwin war es immer so, als würde ich in eine zeitlose Zeit an einen ortlosen Ort reisen. Wenn wir uns sahen, waren wir immer bei uns. Das war schon in der Kindheit so gewesen. Ich kann mich noch an unsere Ausflüge in den Wald erinnern. Ständig hatten wir an irgendwelchen Orten Lagerplätze gebaut. Elisa war auch meistens dabei gewesen. Sie waren an den möglichsten und unmöglichsten Stellen gewesen. Am Anfang nur kleine Unterschlupfe; Tannenzweige über alte Äste gelegt; Blätter und Gras am Boden als Unterlage. Doch mit jedem Sommer waren die Bauten aufwendiger geworden. In unserer Hochphase hatten wir auf einer kleinen Lichtung eine ganze Stadt gebaut: Es gab neben dem Versammlungsraum ein Lagerhaus, eine Werkstatt, eine Waffenschmiede und eine Fischerhütte. Und zentral in der Mitte einen Tempel. Natürlich, es war nicht mehr gewesen als ein paar abgefallene Stecken und Zweige, ein bisschen Grünzeug. Aber für uns war das damals die Welt.
Vor mir waren nun zwei LKWs aufgetaucht und ich musste etwas langsamer werden. Überholen war in auf dieser kurvenreichen Strecke nur schwer möglich. Mein Zeigefinger begann ungeduldig aufs Lenkrad zu kopfen.

An einem Tag im Sommer hatte ich einmal ein gekochtes Ei aus der Küche meiner Eltern mit in den Wald genommen. Wie genau ich auf diese Idee kam, weiss ich heute nicht mehr. Elisa war neben mir gestanden, hatte mich interessiert angesehen. Ich kann mich noch erinnern, dass auch meine Mutter und mein Vater damals in der Küche gesessen waren und uns mit fragenden Blicken angesehen hatten, als ich das Zimmer verlassen hatte. Das Ganze war noch vor dem Vorfall gewesen.
Im Wald angekommen, hatte ich das Ei geschält und es in unserem Tempel platziert. Elisa war staunend neben mit gestanden. Danach haben sie, Edwin und ich begonnen irgendwelche Sprüche vor uns herzusagen, irgendwelche Beschwörungen von Geistern, die wir uns vorher zusammengereimt hatten. Wir waren schon fast in Ekstase gekommen, als wir hinter uns plötzlich das laute Bellen eines Hundes hörten. «Was macht ihr hier?» Es war der Förster gewesen, der uns mit ungläubigen Blicken angesehen hatte. Als wir versuchten, ihm alles zu erklären, war sein Unglaube dem Erstaunen und dann einem leichten Ärger gewichen. Wir sollten uns schleunigst vom Grund des Bauern verziehen, hatte er gemeint. Der sei zwar freigegeben für die öffentliche Nutzung, aber nicht für die Spinnereien von zwei Halbstarken und ihrer Mätresse. Wir hatten damals weder gewusst, was Halbstarke noch was Mätressen sind. Aber getroffen hatte es uns trotzdem.
Die beiden Brummer vor mir nervten mich inzwischen derart, dass ich schon relativ nah aufgefahren war. Das Radio hatte ich auf volle Lautstärke eingestellt. Zwei, drei Mal setzte ich an zu überholen, blieb aber schliesslich doch auf der rechten Spur.
In unsere Stadt im Wald sind wir später nie wieder zurückgekehrt. Aber irgendwie hat uns diese ganze Geschichte noch stärker zusammengeschweisst. Manchmal, wenn ich heute mit Edwin in den Bergen wandere und wir uns für eine Rast an den Wegrand setzen, fühle ich mich, als würden wir wieder in unserem Dorf sitzen. Und manchmal ist auch Elisa dabei…

Mein Telefon riss mich aus den Gedanken. «Willst du dich schon ein bisschen vorher treffen? Muss was besprechen, E.» Eigentlich passte mir das gut. Ich überlegte kurz. Eigentlich hatte ich noch kurz nach Hause fahren wollen, um zu duschen, diese ganze Geschichte mit den Rehen von mir abwaschen. Aber vielleicht war es auch besser, Edwin jetzt schon früher zu sehen. Ich fühlte, dass mir ein bisschen Gesellschaft guttun würde. Ausserdem wollte er etwas besprechen. Wie ich Edwin kannte, würde es wieder um eine seine Frauenbekanntschaften gehen. Oder um seine Arbeit. Er wechselte beides oft und gerne.

Endlich waren wir aus den Hügeln auf die Ebene zurückgekommen. Jetzt gab es zwei Spuren in jede Richtung. Nach einem kurzen Blick in den Rückspiegel stieg ich aufs Gas und zog an den beiden LKWs vorbei. Wo könnte ich Edwin am besten treffen? Bei dem Gedanken spürte ich plötzlich einen Stich in meinem Kopf, zog meine Augenbrauen zusammen. Ins Rehstaurant, schoss es mir ein. Und ich musste lachen. Ich hatte mir tatsächlich einen Kellner und Gäste mit Geweihen vorgestellt.

Schon verrückt, was eine abstruse Geschichte mit unseren Gedanken anstellen kann.

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