Die Sonne war bereits untergegangen. Im Schrehbergarten brannte noch Licht. Ich wusste, dass mein Vater oft lange alleine vor der Hütte sass und den Vögeln beim Streiten zusah. Ich hatte ihn dabei einmal beobachtet und ein Lächeln auf seinen Lippen beobachtet, dass ich damals nicht verstanden hatte. Wir waren uns oft sehr nah, manchmal so nah, dass die Generationenschwelle vergass, die uns unweigerlich trennte. Doch hin und wieder gab es Momente, in denen er mir so fremd war, als hätte ich ihn noch nie zuvor gesehen. Und dieses Lächeln war einer dieser Augenblicke gewesen. Ich kann nicht sagen, woran ich damals gedacht habe: Ich weiss nur, dass ich damals für einen Moment eine grosse Leere in mir gespürt hatte.

Als ich die Tür öffnete und auf die Pflastersteine trat, war ich mit einem Mal von dieser Leere umfangen. Noch nie hatte ich mich so verloren in dieser vertrauten Umgebung gefühlt. Selbst der Wiederhall meiner eigenen Schuhe war mir fremd. War das die richtige Stimmung, um mit meinem Vater über sein Geheimnis oder seine Verwirrung zu reden? Ich hatte mich immer noch nicht entschieden, wofür ich das Ganze halten sollte. Das Licht der Laube, das meine Gestalt umschloss, als ich an die Laube herantrat, schob den Entschluss weiter auf. «Manuel?» Mein Vater war erstaunt. «Hallo, ich…» setzte mich erstmal. Wir blickten uns nicht an. Schwiegen.

Als das Schweigen langsam zur Stille geworden war, begann er zu reden. Sagte, dass es ihm leidtue. Alles. Seine Abwesenheit, jahrelang. Er sei einfach reingezogen worden. Das Treffen mit Robert, die Gespräche danach. Das habe ihm erstmal den Kopf verdreht. Nach ein paar Wochen wollte er es uns – seiner Familie – eigentlich sagen. Doch der Imperrehtor habe es ihm verboten. Ganz oder gar nicht, habe es geheissen. Und irgendwie… Es sei ja nicht nur eine Entscheidung gewesen. Mehrmals habe er die Chance bekommen, auszusteigen. Unter gewissen Bedingungen. Aber er habe sich mehrmals dazu entschieden, ja zum Reh zu sagen. Bewusst sei das gewesen. Dessen sei er sich jetzt klar. Er habe sich entschieden Klartext zu reden. Nach all den Jahren. Viel zu lange sei er hier, in der Menschenwelt, alleine in seinem Garten gesessen und habe mir, der hin und wieder vorbeikam, sein Theater vorgespielt. Die andere Welt, die Welt der Rehe, habe ihn sein ganzes Leben über vereinnahmt gehabt. Und jetzt, wo er langsam beginnen müsse ans Ende zu denken, sei ihm bewusst geworden, dass er viel zu selten bei dem Menschen sei, der ihm am meisten bedeutete. «Ich habe doch nur noch dich.»

Wir hatten unsere Weingläser geleert. In seinem Blick lag eine Mischung aus Bitte und Zuversicht. Zu diesem Zeitpunkt war ich davon überzeugt, dass alles gut werden würde. Als er mir eröffnete, dass er lang darüber nachgedacht habe, wie er anstellen sollte, hatte ich mich innerlich gefreut, als sei schon alles gut. Dass er immer noch und stärker als je zuvor von der Existenz der Rehe sprach, war für mich in den Hintergrund getreten. Es war die Freude auf ein Näherkommen, auf ein Zweisein; darauf, endlich meinem Vater nahe sein zu können, dass mich alles Abstruse ausblenden liess, dass sich unmerklich aber beständig in seinen Reden festgesetzt hatte. «Also habe ich mich entschlossen, dich auf unsere Seite zu holen.» Schock! Was war passiert? «Und deshalb habe ich dir am Nachmittag, als du hier warst, das Serum in den Wein gemischt, dass wir Rehe in den letzten Jahren entwickelt haben. Es holt jeden Ungläubigen auf unsere Seite und zeigt ihm die Wahrheit hinter der illusionären Welt, in der ihr alle lebt.» Er war aufgestanden und zu dem Kasten gegangen, der an der Wand der Hütte stand. «Ich möchte ehrlich mit dir sein, wie gesagt.» Er öffnete die Türen. Dahinter befanden sich einige Utensilien, an die ich mich entfernt aus meinem Chemieunterricht zu erinnern glaubte. In einer Halterung sah ich ein Rehagenzglas. «Hier», er deutete auf das Glas, «habe ich es gemischt. Du hast es nicht geschmeckt. Aber es hat die die Augen geöffnet. Dein Nachmittag war ungewöhnlich, habe ich Recht?»

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