Der halbkreisrunde Tisch, der sich vor mir ausbreitete, war in seiner Grösse so unvorstellbar wie die Geschichte, die er und die Rehe, die dahinter sassen, erzählten. Ich liess alles auf mich wirken, bevor mein Körper und mein Geist bereit waren, irgendwie darauf zu reagieren. Die Blicke der sechs Mitglieder waren alle auf mich gerichtet, ruhten auf eine seltsam wissende Weise auf mir. Dabei hatte ich nicht das Gefühl, als würden sie mich erdrücken. Es war eine unerwartet beruhigende Schwere, die sie auf mich legten. Ein Gefühl, dass ich schon lange vermisst hatte. In mir flackerten Erinnerungen an meine Kindheit auf. An die Spaziergänge mit meiner Familie, an die Stunden mit Edwin im Wald; an meine Schwester; an die schreckliche Nachricht ihres Unfalls. Alles fühlte sich plötzlich so richtig an. Eine Stimme in meinem Hinterkopf versuchte noch laut zu schreien, dass das wahrscheinlich das Gift sei, dass mir mein Vater eingeflösst hatte und dass sich nun langsam um meinen Geist zu legen begann. Doch der Rest von mir hatte sich schon in die weiche Decke eingewickelt, die sich um mich gelegt hatte, mich sicher gefangen hielt in einer neuen, ungewohnten Vertrautheit.

Das Reh, das offensichtlich den Vorsitz hatte, war aufgestanden. Der Imperrehtor war neben mich getreten. «Manuel. Das wird ab jetzt dein Platz sein.» Ich liess mich von ihm nach vorne schieben. Sträubte mich nur wenig. Als wir an den Stuhl kamen, streckte ich die Hand aus. «Warum?», fragte ich. Der Imperretor blickte mich an. Der Druck seiner Hand auf meiner Schulter wurde stärker. «Warum?», beharrte ich. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. «Manuel.» Ich blieb stehen, wehrte mich gegen den Druck seiner Hände. Plötzlich spürte ich den Lauf eines Revolvers in meinem Rücken. «Setze dich. Bitte, Manuel. Ich werde dir alles erklären.» Mit einer unerwarteten Kraft drückte er mich auf den Stuhl. All Augen waren auf mich gerichtet.

«Du wurdest auserwählt.» Sein eindringender Blick liess keine Reaktion von mir zu. «Dein Vater wusste nichts. Doch wir haben dein Leben kontrolliert. Seitdem wir ihn rekrutiert haben, läuft jede Minute deines Lebens nach Protokoll. Anfangs war es ein Versuch. Unsere Forscher wollten wissen, ob es möglich ist, dich nur durch äussere Einflüsse in ein Reh zu verwandeln. Und es hat besser funktioniert, als wir alle gedacht hätten. Wir haben dich durch unbewusste Marker konditioniert. Dinge, die dir niemals aufgefallen sind, haben dich Schritt für Schritt umprogrammiert.» «Aber ich…» «Ich weiss, was du sagen willst. Du möchtest wissen, warum das alles erst jetzt passiert. Du möchtest wissen, warum dir dein Vater dann gestern das Serum eingeflösst hat.» «Und vor allem möchte ich wissen, was ihr mit dem Unfall meiner Schwester zu tun habt.», flüsterte ich. Ich war selbst über die Schärfe der letzten Worte erstaunt gewesen. Der Imperrehtor seufzte. «Deine Schwester war…» Ich blickte auf. Er wich etwas zurück. «Der Grund warum wir dich erst jetzt geholt haben ist, dass wir dich erst jetzt brauchen. Wir haben Donald Trump zum Präsidenten gemacht, um die Weltlage zu destabilieren. Wir haben in Zentral- und Osteuropa Herrscher gross gemacht, um das Vertrauen in die Demokratien zu erschüttern. Und jetzt wirst du als neuer Rehgent eingesetzt. Obwohl du noch nichts davon weisst, bist du schon lange bereit dafür. Das Serum, dass dir gestern verabreicht wurde, wird in den nächsten Tagen all die Dinge aus deinem Unterbewusstsein freisetzen, die wir dort in den letzten Jahren verankert haben. Du warst die letzten Jahre eine Zeitbombe, die wir gefüttert haben. Und jetzt…», er kam nahe auf mich zu, «jetzt wirst du explodieren.» Er lachte laut auf und der Rest des Grehmiums stimmte ein.

Auf eine mir unerklärliche Weise durchfuhr mich plötzlich eine ungeahnte Kraft. «Was ist mit meiner Schwester?», schrie ich. Mit einem Mal verstummten alle. Der Imperrehtor drehte langsam seinen Kopf in meine Richtung, legte den Rehvolver vor mir auf den Tisch. «Deine Schwester…», er war ganz nah zu mir gekommen. «war ein Störfaktor. Kurz vor ihrem Unfall hatte sie deinen Vater zu einer Sitzung verfolgt. Sie hatte sich in den Raum geschlichen und war unter einem Tisch gesessen. Als er den Raum verlassen hatte, war sie geblieben. Wir haben daraufhin über dich und unsere Pläne mit dir gesprochen. Sie ist unter dem Tisch hervorgekrochen und hat uns gedroht. Sie werde alles verraten. Uns blieb keine Wahl. Sie musste verschwinden.» Er legte seine Hand wieder auf meine Schulter. «Dass sie nicht gestorben ist, war ein Missgeschick. Doch zu unserem Glück wird sie so oder so nie wieder etwas sagen. Aber, wie gesagt, das ist jetzt alles hinfällig. Denn nun…», er drehte sich zum Grehmium. «bist du bei uns und wir sind bei dir. Du wirst die Welt rehgieren – so wie wir es geplant haben. Meine Damen, meine Herren – werte Rehe, darf ich vorstellen: Der Meister ist angekommen.» Der plötzlich einsetzende Applaus liess mich unerwartet den Mund nach unten klappen. Ich spürte eine unglaubliche Welle der Freude, die sich von meinem Herzen ausgehend in meinem gesamten Körper zu verbreiten begann. Doch kurz bevor sie meine Hände erreichte, durchfuhr mich ein Zucken. Tief in mir, aus den Untergründen meiner vergangenen Träume, schrie eine Stimme: Sie wollten Elisa töten. Ganz hinten konnte ich es hören, immer wieder erklang es. Meine Augenbrauen zuckten hoch, ein paar Wiederholungen konnte ich sie halten, bevor sie langsam wieder hinunter sanken. Ein neuer Schwall prickelnder Erregung durchzuckte mich. Ich war kurz davor, die Arme in die höhe zu reissen und mich meinem neuen Schicksal als Meister der Rehe zu ergeben. Ich schloss die Augen. Ich sah das Bild von Elisa vor mir, das langsam dunkler zu werden begann. Die Hand des Imperrehtors legte sich wieder auf meine Schulter. Eine sonore Stimme begann neben mir irgendetwas zu reden – ich konnte die Worte nicht identifizieren. Ich hob den Kopf. Mein Blick blieb an dem Revolver vor mir hängen. «Nimm ihn! Tu es!», hörte ich die Stimme verzweifelt rufen. Doch ich… ich hatte keine Kräfte mehr zu widerstehen. «Es ist genug.», sagte ich leise zu mir selbst. Meine Schultern sackten nach unten. Ich spürte, dass der Griff des Imperrehtors fester geworden war. Plötzlich hörte ich auch seine Worte wieder klar. «Willkommen.» Sagte er. Warum – dachte ich mir – soll ich mich auch wehren? Für mich bleibt alles gut. Die einzige Änderung ist, dass  jemand Neues das Sagen hat. Doch ansonsten bleibt alles gleich.

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